Jahrelang erhielten die sozialen Themen und entsprechenden Abteilungen der Unternehmen nur stiefmütterlich Aufmerksamkeit. Unternehmensverantwortung, Corporate (Social) Responsibility, Wirtschaftsethik oder auch Nachhaltigkeit kämpften stets um Anerkennung und Wertschätzung von der Unternehmensstrategie und um einen Platz auf der Vorstandsagenda.
Doch in der letzten Zeit hat sich etwas verändert und auf einmal gibt es den Augenblick, in dem genau diese sozialen und nachhaltigen Themen in den Vordergrund von vielen Unternehmen rücken. Der Moment, an dem auf einmal eine große Nachfrage nach diesen Themen da ist.
Warum ist das auf einmal so? Was hat sich geändert? Und wo von sprechen wir eigentlich?
Wir verstehen unter sozialen Innovationen neue und nachhaltige Wege zur Lösung von gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen. Zum Vorteil des Menschen. Im besten Falle wird eine finanzielle Nachhaltigkeit der Innovation angestrebt, Profit ist allerdings nicht das oberste Ziel.
Es geht also vor allem um neue Ansätze und Ideen, die auf intelligente Art und Weise soziale Bedürfnisse angehen - und idealerweise mit einem profitablen Business Case verbinden. Die Geschäftsmodelle sollen an den wichtigsten und drängendsten Bedürfnissen innerhalb einer Gesellschaft ansetzen und vor allem den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Einige soziale Innovationen sind eigentlich schon lange zentral für unsere Gesellschaft und daher alles andere als neu: Die Sozialversicherung, eingeführt 1883 durch den Reichskanzler Bismarck, sollte eine Grundabsicherung des eigenen Lebensunterhalts ermöglichen. Dazu gehören sowohl Absicherungen im Falle von Krankheit, von Unfällen aber auch die Renten- und Arbeitslosenversicherungen. Die sozialen Auswirkungen für die Absicherung der Gesellschaft sind erst durch diese Innovation entstanden.
Die Open-Source-Bewegung hat zum Ziel, Wissen und Erfahrung zu teilen sowie auf die Intelligenz vieler zu setzen. Damit können Produktinhalte, Quelltexte von Produkten und ihre API öffentlich eingesehen und gemeinsam konsequent verbessert werden. Das Wissen wird somit kostenlos einer breiten Masse zugänglich gemacht. Wikipedia ist sicherlich das berühmteste Beispiel in diesem Kontext. Aber es gibt auch viele weitere Initiativen: Die Khan Academy ist eine Art virtuelles Klassenzimmer, in dem Schüler:innen aus der ganzen Welt kostenlose Bildung in Mathematik, Naturwissenschaften, Computerprogrammierung, Geschichte oder auch Wirtschaft erhalten und in ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen können. Dafür stehen tausende Lernvideos zur Verfügung - alle kostenlos. Auch immer mehr Universitäten bieten ihre Unterrichtsmaterialien kostenlos zur Verfügung.
Volunteering und ehrenamtliches Engagement war auch schon immer ein wichtiger Bestandteil unserer sozial geprägten Gesellschaft. Und die Digitalisierung lässt hier immer neue Formen und Trends zu. Zum Beispiel "Be my Eyes“. Die App verbindet blinde und sehbehinderte Menschen mit einer globalen Community aus Freiwilligen, die per Video-Chat miteinander verbunden werden. So können Fragen unkompliziert gestellt werden: Sind die Farben der Kleidung aufeinander abgestimmt, was steht als Kleingedrucktes auf einer Verpackung oder ist das Licht an. Eine kostenlose App macht diese Hilfe möglich.
Das Programm ShareTheMeal des Welternährungsprogramms erlaubt es über eine App, Kindern in Not mit einem Klick Essen zu spenden. Mit 0.40€ kann bereits ein Kind für einen Tag ernährt werden und auf Grund der hohen Transparenz kann nachverfolgt werden, wo die Spende eingesetzt wird.
Soziale Innovationen sind gerade im Unternehmenskontext auch durchaus mit Gewinnorientierung denkbar. Hier lassen sich soziales Bestreben und nachhaltiges Wirtschaften mit dem Kerngeschäft des Unternehmens verknüpfen. Also ein Ansatz, um sowohl sozial, als auch wirtschaftlich einen wichtigen Beitrag zu leisten. Leitfragen dabei sind: Wie können Lösungen für ungelöste Probleme in der Gesellschaft gefunden werden? Und schafft man durch eine Verbindung dieser Themen auch einen höheren Absatz von Produkten und Services?
Der Volkswagen Konzern hat in seiner Personalstrategie immer wieder Leitplanken für soziale Innovationen gesetzt. In Zeiten von tiefer Krise haben Vorstand und Betriebsrat 1994 die Vier-Tage-Woche mit einer Absenkung der Arbeitszeit und des Entgelts eingeführt, um die Entlassung von 30.000 Beschäftigten zu verhindern und eine Beschäftigungsgarantie für alle Beschäftigten zu erwirken. Diese Lösung wurde deutschlandweit als „Wunder von Wolfsburg“ gefeiert.
Paul Polman, ehemaliger CEO von Unilever, gilt schon lange als Weltverbesserer und hat den Konsumgüter-Konzern bereits 2010 mit dem "Unilever Sustainable Living Plan" konsequent auf die Themen Klimawandel, Ernährungssicherheit sowie Wasser- und Sanitärversorgung ausgerichtet. Mit Kampagnen zum Händewaschen, zur Trinkwasseraufbereitung und zur Verbesserung der Mundhygiene haben sie bereits viele Millionen Menschen zu den Themen sensibilisiert - und auf die dazu passenden Produkte aufmerksam gemacht. Dass dabei auch gleichzeitig der Umsatz stieg, beweist, dass soziale und finanzielle Ziele durchaus miteinander zu vereinen sind.
Aber auch bekannte deutsche Konzerne stellen ihr Kerngeschäft auf den Kopf: Adidas hat nach dem großen Erfolg seines Parley-Schuhs mit einem 95% Anteil aus recycletem Plastik aus dem Ozean nun verkündet, dass es bis 2024 eine komplette Umstellung seiner Produkte durchführen möchte. Das würde bedeuten, dass nur noch wiederverwertete Kunststoffe für Laufschuhe und Bekleidung genutzt werden sollen. Ein riesiger Effekt, wenn man bedenkt, dass etwa die Hälfte der Werkstoffe, die der Konzern in seinen jährlich 920 Millionen Artikeln verbaut, aus Kunststoff besteht.
Saori Dubourg, Vorständin bei BASF und eine der wenigen weiblichen DAX30 Vorstände überhaupt, hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen als Kapitalismuskritikerin gemacht und hinterfragt bestehende Wirtschaftsmodelle. Sie will Unternehmenswachstum neu definieren und gesellschaftliche, ökologische Aktivitäten sowie eine neue Werteorientierung in den Vordergrund stellen. Daher arbeitet sie an einem innovativen Bewertungssystem für Unternehmen, das betriebswirtschaftliche Ziele neu denkt und soziale und ökologische Aktivitäten langfristig honoriert (Value-to-Society-Ansatz).
Gleichzeitig haben wir gerade eine sehr hohe öffentliche Wahrnehmung für die sozialen und ökologischen Themen unserer Gesellschaft.
Auf globaler Ebene konnte man sich auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklungen der Vereinten Nationen mit den sehr bekannten 17 globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals) verständigen. Diese 17 Nachhaltigkeitsziele fassen die wichtigsten Handlungsfelder im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene zusammen und wurden im September 2015 auf einem Gipfel der Vereinten Nationen von allen Mitgliedsstaaten verabschiedet.
Sie gelten sowohl für Industriestaaten aber auch Schwellen- und Entwicklungsländer und erhalten immer mehr Bedeutung: in der politischen Agenda, in Programmen von NGOs und Unternehmen.
#FridaysForFuture: Auch die jüngste Umweltbewegung der nächsten Generation gehört sicherlich mittlerweile zu den bedeutendsten sozialen Innovationen unserer Gesellschaft. Denn was als Schüler-Streik begann, hat sich mittlerweile zu einer weltweiten Bewegung entwickelt mit parallelen Streiks in über 1.600 Städten weltweit. Das Ziel: Auf die Herausforderungen des Klimawandels aufmerksam zu machen. Die Bewegung wird nach und nach auch von Pädagogen, Unternehmern sowie Politikern unterstützt.
Zeitgeist: Vielleicht werden wir als Gesellschaft aber auch einfach nur nachdenklicher. Darüber, wie es zu einer Finanzkrise kommen konnte und welche Schlüsse wir daraus für unsere Wirtschaft ziehen müssen. Darüber, was Grenzen von Kapitalismus und Wachstum sein können. Wie groß die global-soziale Verantwortung von Konzernen in Anbetracht von weltweiten Lieferketten ist. Wie wir Arbeitsplätze trotz Automatisierungspotential durch Digitalisierung halten können. Was für eine Welt wir unseren nachfolgenden Generationen hinterlassen wollen. Und wie wir Gerechtigkeit in heutiger Zeit, auch mit Blick auf Klima- und Flüchtlingskrisen, neu definieren wollen.
Soziale Innovationen bestehen bereits. Und sie sind hochgradig relevant für die Gesellschaft und für Unternehmen. Soziale Innovationen schaffen es, gleichzeitig mehrere Ziele zu erreichen, die durch traditionelle Innovationen so nicht angegangen werden können. Sie gehen ein auf die Megatrends unserer Gesellschaft und adressieren die zukünftigen Herausforderungen in Bereichen, wie Globalisierung, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Demographischer Wandel und Gesundheit. Als Gesellschaft müssen wir soziale Innovationen begünstigen und soziale Innovationsvordenker fördern. Unternehmen müssen sich zwangsläufig mit diesen Themen beschäftigen, um auch langfristig zu überleben und für Mitarbeiter*innen und Kunden attraktiv zu bleiben.
Soziale Innovationen können durch ihr Zusammenspiel von nachhaltigen und ggf. finanziellen Zielen eine Möglichkeit darstellen, finanziell und marktorientierte Interessen mit langfristig-orientierten nachhaltigen Interessen zu verbinden. Sie haben das Potential, die traditionelle Art des Wirtschaftens zu revolutionieren. Und sie bilden eine Brücke zwischen traditionellen Unternehmensinnovationen, öffentlichen Innovationen und Innovationen für die Gesellschaft.
Für mich ist daher klar: Wir brauchen schnellstens noch viel mehr soziale Innovationen auf den Vorstandsebenen unserer Unternehmen.
Zum Weiterlesen:
(Beitrag auch erschienen auf LinkedIn am 29.7.2019)